Nicht ohne dich: Warum wir soziale Beziehungen brauchen


Täglich umgeben sie uns: Familienangehörige, Partner:innen, nette Nachbarinnen und Nachbarn. Wir mögen oder lieben sie sogar. Wenn sie nicht da sind, fehlen sie uns – der Austausch, die gemeinsamen Erlebnisse, die Berührungen. Aber was genau machen zwischenmenschliche Beziehungen so besonders? Warum sind sie für uns unverzichtbar? Die Antworten haben mit unseren tiefsten Bedürfnissen, unserem Körper und sozialem Lernen zu tun.

7. Oktober 2022

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Geld, Besitz, Erfolg – was macht uns glücklich? Für die meisten Menschen gilt: nichts von alledem. Vielmehr ist es unser Gegenüber, das uns Lebensqualität bringt. Wir sind am zufriedensten und gleichzeitig am gesündesten, wenn wir erfüllende Beziehungen führen. Mit unseren Partner:innen, unseren Kindern und Enkelkindern, unseren Freundinnen und Freunden, unseren Bekannten. Aber auch mit unserer Nachbarschaft, dem Team auf der Arbeit und mit Menschen, die uns wegen ihrer Profession – etwa als Hebamme – ein Stück des Weges begleiten.

 

Umfassendste Studie zum Thema Glück: „The Study of Adult Development“

Woher diese Erkenntnis stammt? Aus einer der umfassendsten Studien, die jemals zum Thema Glück durchgeführt wurden. Ihr Name: „The Study of Adult Development“ (auf Deutsch: „Die Studie zur Entwicklung von Erwachsenen“). Über 75 Jahre hinweg begleitete ein wechselndes Team aus Wissenschaftler:innen der Harvard Medical School in Boston mehr als 700 Männer, um herauszufinden, was ein gutes Leben ausmacht. Die Teilnehmer wurden Anfang der 1940er-Jahre aus zwei Gruppen mit unterschiedlichen Lebensumständen für die Studie gewonnen – eine Gruppe setzte sich aus knapp 300 Harvard-Studenten zusammen, die andere aus jungen Männern, die in den ärmsten Vierteln Bostons lebten.

Jährlich wurden sie in ausführlichen Gesprächen unter anderem zu ihrer Gesundheit, ihrer Arbeits- und Wohnsituation befragt. Sie gaben Einblicke in intime Gespräche mit ihren Ehepartnerinnen, ließen ihre Patientenakten einsehen, ihre Gehirne scannen, ihre Eltern und auch Kinder befragen. Aus ihnen wurden Maurer, Anwälte, Fabrikarbeiter, Mediziner – einer von ihnen war sogar amerikanischer Präsident. Manche entwickelten schwere Krankheiten, andere nicht. Manche stiegen die soziale Leiter hinauf, manche hinab.

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OPA UND ENKEL
Wenn ein Racker auf Ruhe trifft

Das Rattern der Reifen wird immer lauter, das Rufen im Hintergrund auch: „Stopp, nicht durchfahren!“ Aber zu spät: Arjan rast – nicht zum ersten Mal – mit Vollgas und einem vergnügten Schrei auf seinem Traktor in den Haufen aus Gras und Blättern, den Opa gerade erst fein säuberlich zusammengefegt hat. Der Enkel bringt Bewegung in das Leben von Gerold Bruns. Gemeinsam toben sie mit dem Pezziball, spazieren zum Spielplatz oder kümmern sich um das Gemüsebeet hinter dem Haus. Die Erlebnisse verbinden die beiden, ebenso wie eine spürbare Wertschätzung für das Wesen des anderen. Der Sechsjährige genießt Opas ausgeglichene Art, der wiederum findet: „Arjan ist sehr aufgeweckt und ein lieber Junge!“ Mit zunehmendem Alter gewinne die Beziehung zum Enkel noch einmal an Bedeutung. Der 82-Jährige stellt fest: „Ohne ihn wäre das Leben um einiges langweiliger!“

→ Mehr zu Gerold und Arjan erfahren Sie hier.

Je verlässlicher die Verbindung, desto glücklicher

Die Forscher:innen sammelten Aussage um Aussage, Fakt um Fakt. Und stellten schlussendlich fest: Es sind zwischenmenschliche Beziehungen, die die Männer glücklicher und gesünder sein ließen. Und zwar unabhängig von Status, Leistungsfähigkeit oder Wohlstand. Dabei war die Qualität der Beziehung entscheidend. Hatten Studienteilnehmer eine starke, verlässliche Verbindung zu Familie, Freunden oder der Nachbarschaft, waren sie zufriedener, gesünder, empfanden weniger Schmerzen bei gesundheitlichen Problemen und lebten länger als Studienteilnehmer mit weniger stabilen Beziehungen.

Erkenntnisse, die kaum eine stärkere – und schönere – symbolische Aussagekraft haben könnten.

Nebenbei bemerkt: Studienleiter Dr. Robert J. Waldinger – bereits der vierte im Laufe der Studie – stellte die Ergebnisse daraus im Rahmen eines sogenannten TED Talks vor; ein Format, in dem Fachleute Ideen und Einsichten austauschen. Der Vortrag wurde zu einem der zehn beliebtesten aller Zeiten. Bis heute erhielt er über 42 Millionen Klicks auf YouTube. Das macht deutlich: Dass Menschen Menschen brauchen für ein erfülltes Dasein, berührt uns.

 

Das Bedürfnis nach Bindung, Zugehörigkeit und Anerkennung

Aber warum sind zwischenmenschliche Beziehungen so erfüllend für uns? Warum beeinflussen sie unser Befinden in diesem Maße?

 

„Es sind die Beziehungen zu anderen, in denen wir unsere Bedürfnisse etwa nach Bindung, Zugehörigkeit und Anerkennung erfüllen.“
Karina Ganghof, psychosoziale Beraterin

 

Die Suche nach Antworten führt zunächst in das Büro von Karina Ganghof. Sie ist psychosoziale Beraterin und weiß: „Es sind die Beziehungen zu anderen, in denen wir unsere Bedürfnisse etwa nach Bindung, Zugehörigkeit und Anerkennung erfüllen.“ Seit 2014 arbeitet die studierte Psychologin im Beratungsbüro awo lifebalance Weser-Ems, das Mitarbeitenden von Partnerunternehmen im Weser-Ems-Gebiet Unterstützung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben bietet. Damit ist sie sehr nah dran an Menschen und den Faktoren, die ihr seelisches Befinden beeinflussen. Allen voran: Beziehungen. Das gilt für den beruflichen ebenso wie für den privaten Bereich.

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DREIERSPITZE
Im Denken verbunden

Was ist die Basis, um zusammen mit anderen Entscheider:innen ein Unternehmen erfolgreich zu führen? Eine gemeinsame Linie haben, findet Christian Schaefer. Er ist einer von drei Geschäftsführer:innen der Alfred Döpker GmbH & Co. KG. „Man spürt, ob es diese Verbindung gibt.“ Wie bei Jan Deharde und Hannelore Rathje, mit denen er ein kongeniales Trio an der Unternehmensspitze bildet. Zwar hat jede:r einen klar definierten Aufgabenbereich, trotzdem suchen sie tagtäglich den Austausch miteinander – als kurzen Wortwechsel im Flur oder intensivere Besprechung im Konferenzraum. „Die Meinung des anderen einzuholen, ist kein Muss, sondern ein Bedürfnis“, beschreibt es Deharde. Sitzen die drei zusammen, schallt nicht selten ein Lachen
durch den Flur. Was sie verbindet, ist eben unter anderem der gleiche Sinn für Humor. Und wie Rathje bemerkt: „Zwischen uns gibt es ein Grundverständnis.“

→ Mehr zur Zusammenarbeit der Dreierspitze erzählt dieser Artikel.

Menschen wenden sich beispielsweise an Karina Ganghof, wenn sie am Arbeitsplatz Schwierigkeiten mit der Führungskraft oder anderen Mitarbeiter:innen haben. Im Privatleben geht es um Probleme in der Partnerschaft oder Trennungen, Herausforderungen in der Kindererziehung oder Trauerfälle in der Familie. Also nahezu immer um das Verhältnis zu einem anderen Menschen, das problematisch, nicht mehr tragbar oder nicht mehr möglich ist.

Wie auch in der Harvard-Studie zu Glück zeigt sich hier der direkte Zusammenhang zwischen dem Befinden eines Menschen und der Qualität seiner Beziehungen. „In einer sozialen Beziehung haben das Denken, Fühlen und Handeln der beteiligten Personen auf die jeweils andere Person einen Einfluss. Je emotionaler ich mit jemandem verbunden oder je abhängiger ich von ihm bin, desto stärker ist dieser Einfluss“, erklärt Karina Ganghof und nennt gleich ein Beispiel: „Kritik von einer mir fremden Person trifft mich in der Regel nicht so hart wie von einer Person, die mir sehr viel bedeutet.“

 

31 %
DER DEUTSCHEN GEBEN AN, ANDERE MENSCHEN ZU BRAUCHEN,
UM SICH GUT ZU FÜHLEN.*

 

Ein offenes Buch: Was unsere Gesichter lesen lassen

So erklärt sich auch, warum wir erröten: Was wir gemeinhin als unangenehm empfinden, weil wir uns geschmeichelt fühlen, verärgert oder beschämt sind, ist schlicht eine soziale Fähigkeit. „Wer errötet, lässt sein Gegenüber erkennen, dass er etwas darauf gibt, was andere von ihm denken“, schreibt Bestseller-Autor Rutger Bregman. Das schaffe Vertrauen. Und Vertrauen wiederum die Basis, sich aufeinander verlassen zu können.

Rutger Bregman ist ein niederländischer Historiker und hat sich in seinem Buch „Im Grunde gut“ mit einer bedeutenden Frage befasst: Wie haltbar ist die weitverbreitete Annahme, der Mensch sei grundsätzlich egoistisch? Seine Antwort: Ganz im Gegenteil seien wir nicht uns selbst, sondern einander zugewandt. In seinen Recherchen stieß Bregman immer wieder auf Geschichten, in denen die Personen auch in lebensbedrohlichen Situationen nicht auf sich, sondern auf ihre Mitmenschen achteten. Sie stellten ihre eigenen Bedürfnisse zurück und riskierten sogar ihr Leben, um anderen zu helfen. Wir sind offensichtlich dafür gemacht, uns dem Gegenüber hinzuwenden.

 

„Wir sind darauf ausgerichtet,
Verbindungen mit Menschen unserer Umgebung herzustellen.“

Rutger Bregman, niederländischer Historiker

 

Eben auch physiognomisch. Neben der Fähigkeit zu erröten fiel Bregman noch etwas auf: Alle Primaten haben dunkle Augen ohne weiße Anteile, um nicht erkennen zu lassen, wohin sie blicken. Alle, außer wir Menschen. Durch das Weiß unserer Augen können wir der Blickrichtung unseres Gegenübers folgen. Gerade diese kleinen Bewegungen sagen viel darüber aus, ob wir uns wohl oder unwohl fühlen, gehetzt oder gelassen sind. Von den Augen des anderen können wir so Gefühle ablesen, quasi in sein Inneres blicken. Auch diese körperlichen Besonderheiten weisen darauf hin: „Wir sind darauf ausgerichtet, Verbindungen mit Menschen unserer Umgebung herzustellen“, wie es Rutger Bregman formuliert. „Und das ist kein Handicap, sondern unser größtes Kapital.“

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HEBAMME UND MUTTER
Gegenseitig verlässlich

Glucksend strahlt die acht Wochen alte Pauline das lächelnde Gesicht ihrer Hebamme an. Tatjana Koch hat sie auf ihre Unterarme gelegt und streicht ihr sanft mit einer Hand über den Kopf, um die Fontanelle zu ertasten. Sie soll sich innerhalb von zwölf Monaten schließen, allerdings nicht zu schnell. Mit ihrem Fachwissen, ihrer Erfahrung und jeder Menge Empathie vermittelt sie Frauen rund um Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit die nötige Sicherheit. „Ohne Tatjana wäre es nicht gegangen“, betont Melanie Becker, die Mutter von Pauline. Sie habe schon bei der ersten Begegnung gespürt: „Ich kann ihr vertrauen.“ Zum guten Verhältnis zwischen den beiden gehört aber auch, dass sich die Patientin auf die Hebamme einlässt. Oder kurz: nicht einseitige, sondern gegenseitige Verlässlichkeit. „Was ich Melanie empfohlen habe, hat sie immer angenommen“, beschreibt es Koch. Das Ergebnis dieser Harmonie: eine vertrauensvolle Beziehung. Und ein vertrauensvolles Baby.

Hier lesen Sie die ganze Geschichte von Hebamme und Mutter.

Soziale Beziehungen als Grundlage, um zu lernen

Von Anbeginn der Menschheit war es essenziell, dass wir uns zueinander „bezogen“ gefühlt haben, dass zwischenmenschliche Verbindungen entstanden sind. Denn nur durch den Umgang und Austausch miteinander konnten wir schneller lernen – und haben damit gleichzeitig unser Überleben gesichert. Um den Unterschied zu anderen Arten an einem drastischen Beispiel aufzuzeigen: Vergleicht man die mentalen Fähigkeiten von Schimpansen, Orang-Utans und zweieinhalbjährigen Kindern, schneiden sie bei fast allen Tests in den Bereichen räumliches Verständnis, Rechnen und Kausalität ähnlich ab – nur nicht im Bereich „Social Learning“. Damit ist das Lernen mit- und voneinander gemeint. Hier erreichen die meisten Kleinkinder 100 Prozent, die Affen hingegen selten über 0.

Durch das „Social Learning“ konnten wir schneller Fähigkeiten entwickeln und vermehren. Dabei half ein offenes, freundliches Äußeres. Je freundlicher – also auch zugewandter anderen gegenüber – wir wirkten, desto leichter haben wir uns verbunden, voneinander gelernt und so die Voraussetzung dafür geschaffen, widrigen Bedingungen zu trotzen. Sozusagen „survival of the friendliest“ statt nach Darwins Theorie „survival of the fittest“. Nicht die am besten angepassten Menschen haben die meisten Nachkommen gezeugt, sondern die freundlichsten, so der Ansatz von Rutger Bregman.

 

Berührungen sind (überlebens)wichtig

Was auch beim Zeugen von Nachwuchs hilft, um es einmal so auszudrücken, sind die Auswirkungen von Berührungen. Wenn wir uns berühren, wird Oxytocin ausgeschüttet. Das „Kuschelhormon“ stärkt das Bindungsgefühl. Die Ausschüttung von Botenstoffen wie Dopamin und Serotonin sorgt zusätzlich für Wohlbefinden. Körperliche Nähe und Berührungen sind somit wesentlicher Bestandteil einer Beziehung.

 

„Ohne Berührungen kann ein Kind nicht überleben.“
Karina Ganghof

 

„Besonders bei Kindern sind sie sehr wichtig – ohne Körperkontakt können sie schwere Verhaltensstörungen entwickeln“, betont Ganghof. Der Tastsinn und das Spüren von Berührungen seien unverzichtbar. „Am Anfang unseres Lebens sind wir alle existenziell auf ein Gegenüber angewiesen, das uns körperlich und emotional versorgt. Sonst können wir nicht überleben.“

 

Lebensglück liegt nah: in den Menschen an unserer Seite

Klar wird: Menschen geht es besser, wenn sie Beziehungen eingehen. Sie sind die Voraussetzung dafür, dass unsere Bedürfnisse nach Bindung, Anerkennung und Selbstbestimmtheit erfüllt werden. Andernfalls leiden das Selbstwertgefühl, das Gesamtbefinden und auch die Gesundheit. Wenn uns enge, verlässliche Beziehungen so guttun – warum rücken sie dann im hektischen Alltagsgeschehen so schnell in den Hintergrund? Die Antwort ist so einfach wie einleuchtend: weil wir uns um zwischenmenschliche Beziehungen bemühen müssen.

Wir müssen sie pflegen, ihnen Aufmerksamkeit, Zeit, Energie widmen. Und vor allem: die richtigen Prioritäten setzen. Was ist wichtig im Leben? Oft genug denken wir – wie im Übrigen auch die Teilnehmer der Harvard-Studie zur Entwicklung von Erwachsenen –, dass wir Erfolg und Wohlstand nachstreben müssten, um glücklich zu sein. Dabei liegt das Glück viel näher – nämlich in den Menschen an unserer Seite. Ein gutes Leben basiert auf guten Beziehungen. Das Bewusstsein dafür sollte (weiter) in uns wachsen.

 

* Studie „Wie einsam fühlen sich die Deutschen?“ der Splendid Research GmbH

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